G. Audisio: Migranti valdesi, Migrants vaudois

Cover
Titel
Migranti valdesi. Delfinato, Piemonte, Provenza (1460-1560)..


Autor(en)
Audisio, Gabriel
Reihe
Collana della Società di Studi valdesi
Erschienen
Turin 2011: Turin
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kathrin Utz Tremp, Staatsarchiv Freiburg

Das anzuzeigende Buch enthält den französischen Urtext und eine italienische Übersetzung Seite an Seite, d.h. wenn man den französischen Urtext liest und auf die nächste Seite wechseln will, muss man dafür die Seite kehren. Das ist nicht weiter schlimm, man gewöhnt sich daran, und wahrscheinlich ist es klug, ein Buch, das von der Emigration vom Piemont – aber auch von der Dauphiné – nach Südfrankreich spricht, von allem Anfang an in den beiden Sprachen Französisch und Italienisch zu veröffentlichen. Gabriel Audisio, heute emeritierter Professor für moderne Geschichte der Universität Aix-en-Provence, hatte 1984 eine These über die Waldenser des Luberon (Südfrankreich) veröffentlicht und ist seither ein allseits anerkannter Spezialist für die mittelalterliche Sekte und später reformierte Kirche der Waldenser, und insbesondere für die romanischen Waldenser. Insbesondere hat er auch eine absolut lesenswerte Geschichte der Waldenser geschrieben, die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist (G. Audisio, Les vaudois. Histoire d’une dissidence, XIIe–XVIe siècle, Paris 1998). Für die These über die Waldenser des Luberon hatte Audisio mehr als 2000 Notariatsregister ausgezogen, was einen Stock von rund 37.000 Fichen ergab. Davon sind 17.000 bereits in numerischer Form vorhanden – Audisios These war eine der ersten in Geschichte, die bereits auf Informatik beruhte –, während rund 20.000 Fichen in Kartons gelagert und manchmal nicht einmal mehr für den Autor lesbar waren. Aus diesen wurde nun eine Auswahl von 1537 Akten ausgewählt, die insgesamt 1346 Waldenser betreffen, welche die Dauphiné oder das Piemont zwischen 1460 und 1560 verlassen und sich im Luberon niedergelassen hatten, das sowohl zur Provence (Königreich Frankreich) als auch zum Comtat Venaissin (Avignon) gehörte. Die Akten konnten nicht integral wiedergegeben werden, es konnte lediglich auf die betreffende Stelle in den Archiven verwiesen werden. Ein Beispiel: ? Agnès, F, oo PARIS Laurent, Roussillon, Dubbione Pinasca. Mariage, 15/09/1517, co. 3 E 36/99/259, A. Aufzulösen: ? = Patronym (normalisiert) fehlt; Agnès = Vorname (normalisiert); F = weiblich; oo = verheiratet mit; PARIS Laurent = Ehemann; Roussillon = Wohnpfarrei; Dubbione Pinasca: Heimatpfarrei; Mariage = Art des Aktes; 15/09/1517 = Datum des Aktes; co. = cote = Signatur des Aktes; 3 E = Archives départementales de Vaucluse; A = acteur, Ausstellerin des Aktes. Das Buch versteht sich also eher als ein Hilfsmittel denn als ein eigentliches geschichtliches Buch. Nichtsdestoweniger führt der Autor doch in die Geschichte der Auswanderung der Waldenser des Piemonts und der Dauphiné nach Südfrankreich ein, eine geradezu spannende Geschichte, die er zumindest teilweise schon in seiner These geschildert und 1989 in einer zweiten Publikation wieder aufgenommen hatte: G. Audisio, Une grande migration alpine en Provence (1460–1560), Turin, Deputazione Subalpine di Storia Patria, 1989.

Demnach verdankt sich die massive waldensische Präsenz im Luberon in erster Linie einer massiven Einwanderungswelle, die seit den 1460er Jahren von den Alpen her kam. Erfasst wurden die Waldenser des Luberon als Einwanderer; sobald sie sesshaft geworden waren, wurden sie nicht mehr aufgenommen. Bei ihnen handelt es sich nicht um Bewohner der Provence, die sich zum Waldensertum bekehrt hatten, sondern eben um Einwanderer. Umgekehrt wird eine Person dann als Waldenser betrachtet, wenn sie aus einem notorischen Waldenserdorf in den Alpen stammte und sich in einer notorisch waldensischen Ortschaft in der Provence niederliess; wenn sie einen waldensischen Familiennamen (Patronym) trug und eine Ehe mit einem Waldenser/einer Waldenserin einging. Da die Verfolgung in Südfrankreich erst 1530 begann (als die Waldenser nicht selten mit den Lutheranern und späteren Hugenotten verwechselt wurden), waren nur wenige der hier ausgewählten Waldenser wirklich von Verfolgung betroffen und erscheinen deshalb kaum in Quellen juristischer Natur. Die massive Einwanderungswelle, die sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts von den Alpen in die Provence ergoss, bestand nicht nur aus Waldensern, aber im Unterschied zu anderen Eingewanderten, die sich in den Städten niederliessen, blieben diese Bauern. Vor allem aber kamen sie aus Dörfern im Piemont oder in der Dauphiné, die seit dem 14. Jahrhundert den Ruf von «Waldensernestern» hatten.

Zwischen 1460 und 1560 kamen zwischen 10.500 und 12.000 Einwanderer in das Luberon. Davon stammen rund 70% aus den Diözesen Embrun (Dauphiné), Turin (Piemont), Gap, Genf und Sisteron. Die Provence war als Einwanderungsland interessant, weil sie bis Mitte des 15. Jahrhunderts durchschnittlich 42% ihrer Bevölkerung durch Kriege und Seuchen verloren hatte. Die Grundherren bemühten sich, ihre Dörfer wieder zu bevölkern und belehnten Einwanderer zu günstigen Bedingungen. Die Waldenser siedelten in ganzen Familien in so genannten «Bastiden», etwas entfernt von den Städten, so dass man ohne grössere Probleme die wandernden Waldenserprediger (bei den romanischen Waldensern «Barben» genannt) empfangen und beherbergen konnte. Von den Einwanderern stammten 68,5% aus der Diözese Turin und 26,5% aus der Diözese Embrun. Innerhalb der Diözese Embrun stammten 85% aus Freissinières, einem der bekannten Waldenserdörfer. Innerhalb der Diözese Turin stammten 23% aus dem Val Pellice, 17% aus dem Val Chisone und 7% aus Pinerolo und dem Val Lemina. Es lässt sich zeigen, dass die Einwanderer aus Freissinières sich vorwiegend in Cabrières d’Aigues niederliessen, und diejenigen aus Bobbio Pellice in Lourmarin. Nichtsdestoweniger war die Flucht vor der Inquisition nicht das einzige Motiv, um auszuwandern, sondern vielmehr Armut und Arbeitslosigkeit. Die Umstellung vom Ackerbau zur Viehzucht im 15. Jahrhundert in den Alpen hatte viele Leute arbeitslos gemacht. Trotzdem wanderten die Waldenser nicht nur aus Armut und wegen Arbeitslosigkeit aus, denn die Einwanderungswellen in Südfrankreich folgen auf die Verfolgungswellen in den Alpen. Im Jahr 1495 schloss eine Gruppe von 75 Familienvätern aus Freissinières einen Vertrag mit dem Herrn von Cabrières d’Aigues; dies aber war nur sieben Jahre nach dem Kreuzzug, den der päpstliche Kommissar Albert Cattaneo 1487/88 in der Dauphiné geführt hatte. Der Inquisitor Jean de Roma und das Parlament der Provence machten denn auch durchaus eine Assoziation zwischen Einwanderung und Häresie, wenn sie dem französischen König 1533 empfahlen, in Zukunft keine Einwanderer aus der Dauphiné, Savoyen und dem Piemont mehr zuzulassen.

Einmal in Südfrankreich angekommen, taten die Waldenser alles, um nicht aufzufallen, und nahmen deshalb auch am katholischen Gottesdienst mit all seinen Riten und Ritualen teil, doch beschränkten sie sich hier auf ein Minimum, ohne allerdings zu provozieren. Daneben empfingen sie weiterhin ihre Barben, die sie für Nachfolger der Apostel hielten, die angeblich so gut lebten, dass sie ihnen ihre Sünden vergeben konnten. Audisio nimmt die Waldenser vor dem Vorwurf des Nikodemus in Schutz, denn sie hätten diese Haltung mitnichten gesucht und gerechtfertigt, sondern sich vielmehr dafür geschämt. Da inquisitoriale Quellen in Südfrankreich erst in den 1530er Jahren wieder einsetzen, muss man zu den Notariatsregistern greifen, insbesondere zu den Heiratsverträgen und zu den Testamenten. Die Waldenser stifteten wenig Messen und gaben dafür umso mehr Spenden für die Armen. Insbesondere aber heirateten sie unter sich, was es ihnen erlaubte, die Barben ungestört auch von einer «ungläubigen» Frau in ihrem Haus zu empfangen. Sie waren in ihrer grossen Mehrheit Bauern (was man daraus schliessen muss, dass sie in den Notariatsregistern keine Berufsbezeichnung trugen) und verfügten über nicht wenig ihnen verpachtetes Land. Sie besassen auch Güter an ihren Herkunftsorten, die sie aber mit der Zeit abstiessen; dies lässt sich als endgültigen Bruch mit der ursprünglichen Heimat und als Wille, im Luberon zu bleiben, interpretieren. Während die beiden ersten Generationen unbehelligt blieben, obwohl man wusste, dass es sich um Häretiker handelte, setzten in der 1530er Jahren auch in der Provence Verfolgungen ein, einerseits weil man die Waldenser mit den Lutheranern verwechselte, und andererseits, weil das Land wieder bevölkert war und man sie nicht mehr brauchte. Was geschildert wird, ist ein spannendes Stück Migrationsgeschichte, bei dem die Häresie gewissermassen die Rolle eines Kontrastmittels spielt, das es erlaubt, Dinge zu sehen, die man sonst nicht sehen würde.

Zitierweise:
Kathrin Utz Tremp: Rezension zu: Gabriel Audisio, Migranti valdesi. Delfinato, Piemonte, Provenza (1460–1560). Migrants vaudois. Dauphiné, Piémont, Provence. Traduzione di Micaela Fenoglio, Turin, Claudiana, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 680-682.

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